Auf Spurensuche nach der „Stunde Null“

Die sogenannte Stunde Null in Rüsselsheim

Flugblatt an den Bürgermeister

Am 25. März 1945, Palmsonntag, werden die Rüsselsheimer*innen Zeugen, wie das »Tausendjährige Reich« nach sechs Jahren Krieg im Begriff ist, endgültig zusammenzubrechen. Seit mehreren Tagen hört man ununterbrochen das Artilleriefeuer, das nur von dem sporadischen Heulen der Sirenen übertönt wird, die vor den Fliegerangriffen warnen. In der Stadt weiß man, dass die fünfte mechanisierte Infanterie Division der 3. US-Armee vor drei Tagen bei Oppenheim den Rhein überquert hat und seitdem in Richtung Gustavsburg vorstößt. Ihr Ziel: Frankfurt. Wegen ihres rot gefärbten diamant-förmigen Abzeichen nennt man die Soldaten der 5. Division auch »rote Teufel«; sie sind kampferfahren, gut genährt und bestens ausgerüstet. Der Rüsselsheimer »Volkssturm«, als letztes Aufgebot des Regimes, setzt sich aus Alten, Kriegsversehrten und Kindern zusammen. Sie sprengen noch am 24. März die Opelbrücke, um den Vorstoß der Amerikaner auf Frankfurt zu verlangsamen. Allen in der Stadt ist klar: Rüsselsheim wird fallen. 


Am frühen Morgen des 25. März um 6 Uhr treffen sich Mitglieder des »Volksturms« und Vertreter der Stadtverwaltung. Man einigt sich darauf, an drei zentralen Punkten der Stadt weiße Fahnen zu hissen: jeweils eine auf dem Opel-Turm und auf dem Rathaus. Die dritte tauscht Philipp Wagner noch hastig gegen die Flak Fahne auf dem Dach der Parkschule aus. Gleichzeitig entledigen sich die Angehörigen des Rüsselsheimers »Volksturms« ihrer Uniformen, schmeißen Waffen und Abzeichen weg und laufen nach Hause. Einige letzte Fanatiker, darunter SS-Leute und Parteimitglieder, wollen nicht aufgeben und machen sich auf den Weg nach Frankfurt. Dann ist es in der Stadt gespenstisch still. Wer weiß, was nun kommen mag?

Palmsonntag 10.20 Uhr, „Stunde Null“ in der Opel-Stadt: die Amerikaner sind da. In geordneten Reihen marschieren sie in Rüsselsheim ein; es bleibt friedlich. In den darauffolgenden Tagen durchsuchen die Soldaten der US-Armee systematisch Wohnhäuser, Verwaltungsgebäude und Industrieanlagen. Alle noch Uniformierten, aber auch identifizierte Parteimitglieder und Führungspersonen werden festgenommen. Währenddessen rücken die restlichen Verbände der fünften Division Richtung Frankfurt vor. Der Flughafen wird noch am Tag der Rüsselsheimer Befreiung erobert; die versprengten Wehrmachtsverbände, die Frankfurt verteidigen sollen, kapitulieren am 30. März. Das »Dritte Reich« bricht am 8. Mai zusammen.

Für die Rüsselsheimer*innen ist zu diesem Zeitpunkt der Krieg aber bereits lange vorbei. Sie blicken nun einer ungewissen Zukunft entgegen. Viel Zeit darüber nachzudenken, bleibt ihnen jedoch nicht. Von nun an gilt es, sich mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren. Vor dem Krieg zählte Rüsselsheim knapp 16.000 Einwohner; jetzt im April 1945 sind es nur noch etwa 9.500. Von den über 3.100 Wohnhäusern sind lediglich 2.000 bewohnbar. Überall liegen Trümmer. Es fehlt an vielem. Das Schlagwort lautet: Wiederaufbau. Nach vorne blicken. In den folgenden Monaten treffen sich die Rüsselsheimer*innen unter der Woche jeden Abend für zwei Stunden von 18 bis 20 Uhr, um die Trümmer in den Hauptstraßen zu beseitigen; samstags und sonntags sind es sogar vier Stunden.
Rüsselsheim beginnt sich langsam zu erholen. 1949 sind die meisten Schäden an der Bausubstanz beseitigt. Sehr viel länger wird es dauern, bis man sich mit den Trümmern beschäftigt, die das NS-Regime in den Köpfen angerichtet hat.

Heute, 75 Jahre danach, sind die Schrecken des Krieges verblasst und so gut wie in Vergessenheit geraten. Aber noch immer gibt es in Rüsselsheim Orte, die von dieser Zeit erzählen können. Es sind Orte, die vom Nationalsozialismus und einer neuen demokratischen Ordnung erzählen und an denen sich Opfer und Täter begegneten; Orte, die an das Leid und den steinigen Weg der Wiedergutmachung erinnern und solche, die gezeichnet sind von dem Wunsch vergessen zu wollen und der Pflicht, sich erinnern zu müssen. Wir nehmen das Datum zum Anlass, die Frage aufzuwerfen, was es mit dieser sogenannten Stunde Null auf sich hat, die am 25. März 1945 in Rüsselsheim schlug. War sie ein Neuanfang oder ein Übergang? Markierte sie einen Bruch oder zeugte sie von einem Kontinuum?

Begeben wir uns gemeinsam Stück für Stück auf eine Spurensuche in der Stadt – die ursprünglich geplante Führung wird nun hier auf unserer Webseite stattfinden.

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Bahnsteig mit zerfallenen Häusern im Hintergrund